c) Keine verfassungskonforme „Anwendung“ durch § 31 a
Abs. 3 SGB III
Im Bereich der Sanktionen zwischen 30 % und 100 % lässt sich
ebenfalls keine verfassungskonforme Auslegung erreichen. Insbesondere durch ein
Zusammenspiel der § 31a Abs. 1 SGB II i. V. m. § 31a Abs. 3
SGB II ist keine Verfassungskonformität herstellbar.
Eine Einzelfallentscheidung der Verwaltung über die Vergabe
von Sachleistungen kann bereits per se unmöglich einen Verfassungsverstoß
beheben, der in einer anderen, sie
bedingenden Rechtsnorm selbst begründet liegt.
Eine solche
„verfassungskonforme Anwendung“ durch Zusammenlesen der Sanktionsnormen mit der
Sachleistungsregelung des § 31a Abs. 3 SGB II wird jedoch in der
Literatur zum Teil propagiert:
vgl. z. B. Davilla, SGb 2010, 557, 559 und Lauterbach,
ZFSH/SGB 2011, 584, 585; auch Stellungnahme des DRB zur öffentlichen Anhörung
des Ausschusses für Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestags vom 6.6.2011,
Nr. 3. Annahme einer Verfassungswidrigkeit insoweit: Richers/Köpp, DÖV 2010,
997, 1003 f.
Auch in der Rechtsprechung
wird diese „Lösung“ zur Anwendung der Sanktionsnormen offenbar vertreten, z. B.
indem Sanktionen um 100 % für verfassungswidrig gehalten werden, sofern „der
Grundsicherungsträger nicht zugleich ergänzende Sachleistungen oder
geldwerte Leistungen gewährt“ [Hervorh. d. Verf.],
so SG Berlin vom 19.8.2009 – S 26 AS 5380/09, juris Rn. 29
f., im Anschluss an Landessozialgericht Berlin 10. Senat vom 16.12.2008 - L 10
B 2154/08 AS ER-, Rn. 10); vgl. auch LSG Niedersachsen, Beschluss vom 21.4.2010
– L 13 AS 100/10 B ER, Rn. 7 f.
Doch zum einen bleibt die Sanktion in Höhe von mindestens 30
% in allen darüber liegenden Sanktionsfällen trotz der Sachleistungsvergabe
bestehen. Eine Kompensation durch Sachleistungen kommt überhaupt nur bei
Sanktionen ab 40 % (bis zu einer Höhe von ca. 46 % des Regelbedarfs) in
Betracht. Da nach dem Gesetzgeber allein der volle Regelsatz das
menschenwürdige Existenzminimum sicherstellt (100 % des Regelbedarfs,
eventueller Mehrbedarfe und der Kosten für Unterkunft und Heizung nach §§ 20
ff. SGB II), scheidet eine verfassungskonforme Anwendung bereits aus
diesem Grund aus.
Zum anderen ist in diesen Fällen die Gewährleistung von
Sachleistungen von der Antragstellung durch den Betroffenen abhängig. D. h., es
braucht ein aktives Verhalten des (meist gerade aufgrund seiner
fehlenden Aktivität sanktionierten) Bedürftigen als Zwischenschritt, um
überhaupt eine Kompensationsmöglichkeit zu erreichen. Selbst dann liegt die Bewilligung
der Sachleistungen noch im Ermessen der Verwaltungsbehörde.
Das in § 31a Abs. 3 S. 1 SGB II festgelegte
Ermessen bei der Sachleistungsgewährung, wonach „der Träger auf Antrag in
angemessenem Umfang ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen erbringen
(kann)“ [Hervorh. d. Verf.], lässt sich schwerlich als gebundene
Entscheidung lesen.
Eine solche Auffassung, das „kann“ im Gesetzestext
als „muss“ auszulegen, widerspräche dem eindeutigen Wortlaut der Norm
und überschreitet damit die Grenze zulässiger Auslegung.
Außerdem hat der Gesetzgeber eine Ermessenregelung gerade beabsichtigt.
Denn nach § 31a Abs. 3 S. 2 SGB II „hat“ der Träger in Fällen, in
denen minderjährige Kinder im Haushalt des Bedürftigen leben, die Leistungen zu
erbringen. Hier wurde der Verwaltung vom Gesetzgeber also in bewusstem
Gegensatz zum Vorsatz kein Ermessenspielraum zugestanden. Dem entspricht die
Gesetzesbegründung, in der explizit festgehalten wurde, dass die „Erbringung
von Sachleistungen an Bedarfsgemeinschaften mit minderjährigen Kindern als Verpflichtung
zur Leistungserbringung“ [Hervorh. d. Verf.] auszugestalten sei.
Bundestags-Drucksache 17/3404, S. 112.
Daraus ergibt sich im Umkehrschluss, dass eine zwingende
Sachleistungsvergabe eben gerade nicht für die übrigen Haushalte gelten
sollte.
Eine Ermessensreduzierung auf Null bei der
Sachleistungsvergabe zumindest im Fall einer 100-%-Sanktion anzunehmen – wie in
der Literatur und Rechtsprechung zum Teil befürwortet – scheidet gleichfalls
aus. Sie könnte ebenfalls lediglich zur Abmilderung der (von Grund auf
verfassungswidrigen) Folgen einer hohen Leistungskürzung führen, den
Verfassungsverstoß selbst jedoch nicht beseitigen.
Ebenso scheidet es aufgrund des eindeutigen Wortlauts
(„auf Antrag“) aus, in diesen Fällen Sachleistungen etwa ohne Antrag zu
gewähren.
Auch die Gewährung staatlicher Leistungen über „Umwege“
durch kompensatorische Zuschläge an die übrigen Mitglieder der
Bedarfsgemeinschaft
(vgl. zu diesem Vorschlag Geiger, info also 1/2010, S. 1
ff. (9)),
würde bloß zu einer Umgehung der unmissverständlichen
gesetzlichen Regelung führen.
Wenn das Verwaltungshandeln jedoch nur dann das
Existenzminimum sicherstellt, wenn es gerade nicht auf Grundlage sondern
entgegen einer leistungskürzenden Rechtsnorm Leistungen gewährt, kann es
offensichtlich nicht zu einer verfassungskonformen Auslegung der
leistungskürzenden Rechtsnorm führen. Im Gegenteil ist dann in Wirklichkeit
deren Nichtanwendung im Einzelfall die Voraussetzung für die Sicherstellung
des menschenwürdigen Existenzminimums.
Die an dieser Stelle lediglich angedeuteten, teilweise
geradezu akrobatischen „Lösungen“ der rechtswissenschaftlichen Literatur zur
verfassungskonformen Auslegung der Sanktionsnormen laufen im Ergebnis allesamt
auf die Aufrechterhaltung bestimmter notwendiger Leistungen trotz des
tatbestandlichen Eingreifens der §§ 31a ff. SGB II hinaus. Sie führen
damit zu einer Umgehung des Wortlauts der Norm und laufen der gesetzgeberischen
Intention zuwider, die gerade in der engen
und ausnahmslosen Verknüpfung der staatlichen Leistungsgewährung mit Pflichten des
Hilfebedürftigen liegt und damit bewusst von den individuellen Bedarfen
der Sanktionierten abstrahiert.
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