Samstag, 20. Juli 2013

Antrag: ff) Sanktionen als unzulässiger Eingriff


ff) Sanktionen als unzulässiger Eingriff

Bei den Sanktionsnormen handelt es sich auch nicht um einen zulässigen Eingriff in das Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG.  Denn es ist von Verfassung wegen verwehrt, existenzsichernde Leistungen – von denen nach der Entscheidung des BVerfG vom 9.2.2010 und angesichts eines anhängigen Vorlageverfahrens (SG Berlin, S 55 AS 9238/12) nicht einmal als gewiss gelten kann, dass sie das Existenzminimum überhaupt decken,

vgl. dazu Münder, Verfassungsrechtliche Bewertung des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24.3.2011 – BGBl. I S. 453, in: Soziale Sicherheit, Zeitschrift für Arbeit und Soziales der Hans-Böckler-Stiftung, Sonderheft, September 2011

trotz nachgewiesener Bedürftigkeit durch die Verwaltung im Einzelfall zu kürzen. Im Gegenteil verlangt Art. 1 Abs. 1 GG, der

die Menschenwürde jedes einzelnen Individuums ohne Ausnahme schützt, dass das Existenzminimum in jedem Einzelfall sichergestellt wird.“ [Hervorh. d. Verf.]

BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 205.

Das Gewährleistungsrecht des Einzelnen ergibt sich nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts unmittelbar aus Art. 1 Abs. 1 GG:

„Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ergibt sich aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG. (...) Art. 1 Abs. 1 GG begründet diesen Anspruch.“ [Hervorh. d. Verf.]

BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 133.

„Dieser objektiven Verpflichtung aus Art. 1 Abs. 1 GG korrespondiert ein Leistungsanspruch des Grundrechtsträgers, da das Grundrecht die Würde jedes individuellen Menschen schützt (vgl. BVerfGE 87, 209 <228>) und sie in solchen Notlagen nur durch materielle Unterstützung gesichert werden kann.“ [Hervorh. d. Verf.]

BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 134.

„Die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums muss durch einen gesetzlichen          Anspruch gesichert sein. Dies verlangt bereits unmittelbar der Schutzgehalt des Art. 1 Abs. 1 GG.[Hervorh. d. Verf.]

BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 136.

„Der Leistungsanspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG ist dem Grunde nach von der Verfassung vorgegeben.“ [Hervorh. d. Verf.]

BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 138.

Bei der Menschenwürde ist jedoch jeder Eingriff ein ungerechtfertigter, d. h. zugleich ihre Verletzung. Für eine zulässige Einschränkung des Grundrechts ist demnach kein Raum.

Vgl. nur BVerfG vom 3.6.1987 – 1 BvR 313/85, BVerfGE 75, 369, 380; Hillgruber, BeckOK, GG Art. 1 Rn. 11; Nešković/Erdem, Zur Verfassungswidrigkeit von Sanktionen bei Hartz IV, SGb 2012, 136 ff. (140) m. w. N.

Die für die Bundesrepublik Deutschland schlechthin konstituierende unantastbare Menschenwürde des Art. 1 Abs. 1 GG ist einem gerechtfertigten Eingriff unzugänglich. Ein Sanktionsregime, das die Verweigerung des Überlebensnotwendigen, sei es auch nur vorübergehend, vorsieht, ist deshalb verfassungswidrig“.

Schnath, NZS 2010, 297, 301.

Das (einmal durch den Gesetzgeber ausgestaltete) Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG ist „unverfügbar“.

BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 133.

Legt der Gesetzgeber in Erfüllung seiner grundrechtlichen Verpflichtung zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums eine bestimmte Höhe des Existenzminimums fest, dann nimmt er damit eine Konkretisierung/Inhaltsbestimmung des Grundrechts vor, an der sich Kürzungen im Einzelfall messen lassen müssen.

Vgl. Nešković/Erdem, Zur Verfassungswidrigkeit von Sanktionen bei Hartz IV, SGb 2012, 136 ff. (140); dieselben, Für eine verfassungsrechtliche Diskussion über die Menschenwürde von Hartz-IV-Betroffenen, in: SGb 2012, 326 ff. (327).

Das so berechnete „Minimum für die Existenz“ bezeichnet „bereits denklogisch einen nicht unterschreitbaren Kern. Der gesamte Leistungsumfang des Existenzminimums muss somit zugleich sein Mindestinhalt sein“, der „in jedem Fall und zu jeder Zeit“ gewährleistet sein muss.“

Landessozialgericht NRW, L 20 AY 153/12 B ER vom 24.4.2013, Rn. 55 m. w. N.

Jegliche Be- und Einschränkung dieses Anspruchs – aus welchen Gründen auch immer – bedeutet unweigerlich eine Einschränkung des Leistungsrechts und verletzt das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Dies gilt insbesondere für eine bedarfsunabhängige Verminderung des Anspruchs.

Sanktionen gemäß §§ 31a, 32 SGB II führen dazu, dass das vom Gesetzgeber festgelegte Existenzminimum für den Zeitraum der Sanktion unterschritten wird. Hierbei wird zum einen vollkommen vom Bedarf abstrahiert und zum anderen die Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts unterlaufen, nach der „Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG verlangt, dass das Existenzminimum in jedem Fall und zu jeder Zeit sichergestellt sein muss“ [Hervorh. d. Verf.],

BVerfG, 1 BvL 10/10 vom 18.7.2012, Abs.-Nr. 120,

und „zu jeder Zeit die Erfüllung des aktuellen Bedarfs sicherzustellen“ ist,

BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 140.

Jede Unterschreitung dieses unverfügbaren Anspruchsinhalts stellt eine Verletzung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG dar.

Es kann für Eingriffe in das Grundrecht schlechthin keine Rechtfertigung geben. Dabei kann es dahinstehen, welche beispielsweise haushälterischen Auswirkungen die Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums staatlicherseits hat. Der Staat hat die Verpflichtung, seine aus der Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip erwachsenden Aufgaben zu erfüllen und die entsprechenden Mittel zur Verfügung zu stellen,

vgl. Bryde, Steuerverweigerung und Sozialstaat, in: Aschke/Hase/Schmidt-De/Caluwe (Hg.), Selbstbestimmung und Gemeinwohl, Festschrift für Friedrich von Zezschwitz zum 70. Geburtstag, 2005, S. 326 ff.; Nešković/Erdem, Zur Verfassungswidrigkeit von Sanktionen bei Hartz IV, SGb 2012, 140.

 

1 Kommentar:

  1. Einen Eingriff in den Schutzbereich des Art. 1 GG ergibt sich noch aus einigen anderen Gesichtspunkten. So hat das BVerfG in der Vergangenheit unter anderem schon geurteilt, daß der Staat kein Mandat hat, seine (volljährigen) Bürger zu erziehen.

    In genau diese Richtung geht aber die Gesetzesbegründung im Bereich des Sanktionsparagraphen...

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