ff) Sanktionen als unzulässiger Eingriff
Bei den Sanktionsnormen handelt es sich auch nicht um einen zulässigen Eingriff
in das Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG. Denn es ist von Verfassung wegen verwehrt, existenzsichernde Leistungen – von
denen nach der Entscheidung des BVerfG vom 9.2.2010 und angesichts eines
anhängigen Vorlageverfahrens (SG Berlin, S 55 AS 9238/12) nicht einmal als gewiss
gelten kann, dass sie das Existenzminimum überhaupt decken,
vgl. dazu Münder, Verfassungsrechtliche Bewertung des
Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und
Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24.3.2011 – BGBl. I S. 453, in: Soziale
Sicherheit, Zeitschrift für Arbeit und Soziales der Hans-Böckler-Stiftung,
Sonderheft, September 2011 –
trotz nachgewiesener Bedürftigkeit
durch die Verwaltung im Einzelfall zu
kürzen. Im Gegenteil verlangt Art.
1 Abs. 1 GG, der
„die Menschenwürde jedes einzelnen
Individuums ohne Ausnahme
schützt, dass das Existenzminimum in
jedem Einzelfall
sichergestellt wird.“ [Hervorh. d. Verf.]
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 205.
Das Gewährleistungsrecht
des Einzelnen ergibt sich nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts unmittelbar aus Art. 1 Abs. 1 GG:
„Das
Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ergibt
sich aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG. (...) Art. 1 Abs. 1 GG begründet diesen Anspruch.“
[Hervorh.
d. Verf.]
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 133.
„Dieser
objektiven Verpflichtung aus Art. 1
Abs. 1 GG korrespondiert ein Leistungsanspruch des
Grundrechtsträgers, da das Grundrecht die Würde jedes individuellen Menschen
schützt (vgl. BVerfGE 87, 209 <228>) und sie in solchen Notlagen nur
durch materielle Unterstützung gesichert werden kann.“ [Hervorh. d. Verf.]
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 134.
„Die
Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums muss durch einen
gesetzlichen Anspruch gesichert
sein. Dies verlangt bereits unmittelbar der Schutzgehalt des Art. 1 Abs. 1 GG.“ [Hervorh. d. Verf.]
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 136.
„Der
Leistungsanspruch aus Art. 1 Abs. 1
GG ist dem Grunde nach von der Verfassung vorgegeben.“ [Hervorh. d. Verf.]
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 138.
Bei der Menschenwürde
ist jedoch jeder Eingriff ein
ungerechtfertigter, d. h. zugleich ihre Verletzung. Für eine zulässige Einschränkung des Grundrechts ist demnach kein Raum.
Vgl. nur BVerfG vom 3.6.1987 – 1 BvR 313/85, BVerfGE 75,
369, 380; Hillgruber, BeckOK, GG Art. 1 Rn. 11; Nešković/Erdem, Zur
Verfassungswidrigkeit von Sanktionen bei Hartz IV, SGb 2012, 136 ff. (140) m.
w. N.
Die für die
Bundesrepublik Deutschland schlechthin konstituierende unantastbare Menschenwürde des Art. 1 Abs. 1 GG ist einem gerechtfertigten Eingriff unzugänglich.
Ein Sanktionsregime, das die „Verweigerung des Überlebensnotwendigen,
sei es auch nur vorübergehend,
vorsieht, ist deshalb verfassungswidrig“.
Schnath, NZS 2010, 297, 301.
Das (einmal durch den Gesetzgeber ausgestaltete) Grundrecht
aus Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG ist „unverfügbar“.
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 133.
Legt der
Gesetzgeber in Erfüllung seiner grundrechtlichen Verpflichtung zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums
eine bestimmte Höhe des
Existenzminimums fest, dann nimmt er damit eine
Konkretisierung/Inhaltsbestimmung des Grundrechts vor, an der sich Kürzungen im Einzelfall messen lassen
müssen.
Vgl. Nešković/Erdem, Zur
Verfassungswidrigkeit von Sanktionen bei Hartz IV, SGb 2012, 136 ff. (140);
dieselben, Für eine verfassungsrechtliche Diskussion über die Menschenwürde von
Hartz-IV-Betroffenen, in: SGb 2012, 326 ff. (327).
Das so
berechnete „Minimum für die Existenz“ bezeichnet „bereits denklogisch einen nicht
unterschreitbaren Kern. Der gesamte
Leistungsumfang des Existenzminimums muss somit zugleich sein Mindestinhalt sein“, der „in
jedem Fall und zu jeder Zeit“ gewährleistet sein muss.“
Landessozialgericht NRW, L 20 AY 153/12 B ER vom
24.4.2013, Rn. 55 m. w. N.
Jegliche Be- und Einschränkung dieses Anspruchs – aus
welchen Gründen auch immer – bedeutet unweigerlich eine Einschränkung des Leistungsrechts und verletzt das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen
Existenzminimums. Dies gilt insbesondere für eine bedarfsunabhängige
Verminderung des Anspruchs.
Sanktionen gemäß §§ 31a, 32 SGB II führen dazu,
dass das vom Gesetzgeber festgelegte Existenzminimum für den
Zeitraum der Sanktion unterschritten
wird. Hierbei wird zum einen vollkommen
vom Bedarf abstrahiert und zum anderen die Vorgabe des
Bundesverfassungsgerichts unterlaufen, nach der „Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG verlangt, dass
das Existenzminimum in jedem Fall und
zu jeder Zeit sichergestellt sein muss“
[Hervorh. d. Verf.],
BVerfG, 1 BvL 10/10 vom 18.7.2012, Abs.-Nr. 120,
und „zu jeder Zeit die
Erfüllung des aktuellen Bedarfs sicherzustellen“ ist,
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 140.
Jede Unterschreitung dieses unverfügbaren Anspruchsinhalts stellt eine Verletzung des
Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art.
1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG dar.
Es kann für Eingriffe in das Grundrecht schlechthin keine Rechtfertigung geben. Dabei kann
es dahinstehen, welche beispielsweise haushälterischen Auswirkungen die
Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums staatlicherseits hat. Der Staat hat die Verpflichtung, seine aus der Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip
erwachsenden Aufgaben zu erfüllen und
die entsprechenden Mittel zur Verfügung
zu stellen,
vgl. Bryde, Steuerverweigerung und Sozialstaat, in:
Aschke/Hase/Schmidt-De/Caluwe (Hg.), Selbstbestimmung und Gemeinwohl,
Festschrift für Friedrich von Zezschwitz zum 70. Geburtstag, 2005, S. 326 ff.;
Nešković/Erdem, Zur Verfassungswidrigkeit von Sanktionen bei Hartz IV, SGb
2012, 140.
Einen Eingriff in den Schutzbereich des Art. 1 GG ergibt sich noch aus einigen anderen Gesichtspunkten. So hat das BVerfG in der Vergangenheit unter anderem schon geurteilt, daß der Staat kein Mandat hat, seine (volljährigen) Bürger zu erziehen.
AntwortenLöschenIn genau diese Richtung geht aber die Gesetzesbegründung im Bereich des Sanktionsparagraphen...