Samstag, 20. Juli 2013

Antrag: gg) Evidente Bedarfsunterschreitung


gg) Evidente Bedarfsunterschreitung

Darüber hinaus liegt jedenfalls bei allen Sanktionen von über 30 % der Regelleistung zusätzlich ein Verstoß gegen das Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG aufgrund einer evidenten Unterschreitung des zum Leben Notwendigen vor.

Hat der Gesetzgeber nämlich erst einmal Leistungen zur Deckung des Existenzminimums festgelegt, so muss er sich daran messen lassen. Der durch den Gesetzgeber zuerkannte Leistungsanspruch ist nunmehr unmittelbar verfassungsrechtlich geschützt. Nach einer Inhaltsbestimmung erstreckt sich der verfassungsrechtliche Schutz und damit die (Evidenz-) Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts auf den inhaltlich konkretisierten Umfang des Grundrechts.

Vgl. Nešković/Erdem, Für eine verfassungsrechtliche Diskussion über die Menschenwürde von Hartz-IV-Betroffenen, in: SGb 2012, 326 ff. (329).

Entsprechend hat das Bundesverfassungsgericht bei seiner Entscheidung über die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz die Leistungen nach dem SGB II als Maßstab für seine Evidenzkontrolle herangezogen und für seine Übergangsregelung auf das Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz zurückgegriffen:

vgl. BVerfG, 1 BvL 10/10 vom 18.7.2012, Abs.-Nr. 107 ff., 126 ff.

Dabei hat es ausgeführt:

„Die Normen des Regelbedarfs-Ermittlungsgesetzes sind ausweislich der Stellungnahme der Bundesregierung in diesem Verfahren die einzig verfügbare, durch den Gesetzgeber vorgenommene und angesichts seines Gestaltungsspielraums wertende Bestimmung der Höhe von Leistungen zur Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums.“ [Hervorh. d. Verf.]

BVerfG, 1 BvL 10/10 vom 18.7.2012, Abs.-Nr. 126.

Unter diesem Maßstab führt bereits eine erhebliche Abweichung vom dem festgelegten Regelsatz zu der Annahme einer evidenten Unterschreitung des Existenzminimums, ohne dass es auf die Deckung des zum physischen Überleben Notwendigen noch ankäme.

So offenbart nach dem Bundesverfassungsgericht

 „ein erheblicher Abstand von einem Drittel zu Leistungen nach dem Zweiten und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch, deren Höhe erst in jüngster Zeit zur Sicherung des Existenzminimums bestimmt wurde [...], ein Defizit in der Sicherung der menschenwürdigen Existenz.“ [Hervorh. d. Verf.]

                   BVerfG, 1 BvL 10/10 vom 18.7.2012, Abs.-Nr. 112.

Bereits die erste in § 31a Abs. 1 S. 1 SGB II festgelegte Sanktionsstufe, bei der durch die Verwaltung unter keinen Umständen ein Ausgleich durch Sachleistungen vorgenommen werden kann, beträgt 30 %. Schon in dieser Unterschreitung um nahezu ein Drittel der Regelleistung liegt eine evidente Unterschreitung, erst recht bei allen höheren Sanktionsstufen.

Zwar ist bei Sanktionen ab 40 % gemäß § 31 Abs. 3 S. 1 SGB II die Gewährung von Sachleistungen und geldwerten Leistungen als Kompensationsmöglichkeit vorgesehen. Eine solche Kompensation wird jedoch nur bis zu einer Grenze von aktuell 172 Euro gewährt,

vgl. BA-Hinweise zu §§ 31 ff. SGB II, Anlage 3 und Anlage 4.

Dies entspricht nicht einmal 50 % des Regelbedarfs nach § 20 SGB II.

Eine Sachleistungsvergabe kann höchstens zur relativen Abmilderung der (von Grund auf verfassungswidrigen) Folgen einer Leistungskürzung führen, den Verfassungsverstoß selbst jedoch nicht beseitigen.

Darüber hinaus ist die Gewährleistung von Sachleistungen von der Antragstellung durch den Betroffenen abhängig. Das bedeutet, es braucht ein aktives Verhalten des Bedürftigen als Zwischenschritt, um überhaupt eine Kompensationsmöglichkeit zu erreichen. Selbst dann liegt die Entscheidung über die Bewilligung nach § 31a Abs. 1 S. 1 SGB II noch im Ermessen der Verwaltungsbehörde.

Zur Unmöglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung s. unter 3.

Das Bundesverfassungsgericht fordert jedoch eine Festsetzung der Bedarfshöhe durch ein Parlamentsgesetz:

vgl. BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 136.

Abgesehen davon, dass es nicht nachvollziehbar ist, wieso von Gesetzes wegen die Kompensation der Leistungskürzung durch Sachleistungen erst bei Sanktionen über 30 % in Betracht kommt, entspricht es auch nicht dem rechtsstaatlichen Bestimmtheitserfordernis, über die Gewährleistung der Sachleistungen und damit über die erheblichen, strafähnlichen Folgen einer Sanktion einzelne Verwaltungsbehörden ins Blaue hinein entscheiden zu lassen.

Solches Verwaltungshandeln ist jedenfalls nicht geeignet, den von Verfassung wegen gebotenen Leistungsanspruch in jedem Einzelfall sicherzustellen und damit eine evidente Unterschreitung des Existenzminimums abzuwehren.

Zur Unmöglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung s. unter 3.

 

1 Kommentar:

  1. A C H T U N G ! ! !

    Zitat: "Darüber hinaus liegt jedenfalls bei allen Sanktionen von über 30 % der Regelleistung zusätzlich ein Verstoß gegen das Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG aufgrund einer evidenten Unterschreitung des zum Leben Notwendigen vor."

    Das ist, mit Verlaub, Bullshit und widerspricht der ganzen ansonsten vorgetragenen richtigen Argumentation. Wenn sich das Existenzminimum aus dem pysischen und dem soziokulturellen Existenzminimum zusammensetzt, beide aber untrennbare Teile eines großen ganzen sind; wenn das soziokulturelle Existenzminimum, weil der Mensch notwendigerweise in sozialen Bezügen lebt, zentraler, nicht wegzudenkender Bestandteil des Existenzminimums ist - wo ließen sich hierauf beruhend 30 Prozent davon abziehen?

    Ach, übrigens: im Text keine mathematischen Sonderzeichen verwenden. Also "Prozent" ausschreiben und für Quadratmeter qm, und so weiter.

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