hh) Keine Selbsthilfeobliegenheit zum Erwerb des
Existenzminimums
Der Unverletzlichkeit des Grundrechts auf Gewährleistung
eines menschenwürdigen Existenzminimums steht auch nicht entgegen, dass die
Sanktionsreglungen der §§ 31a, 32 SGB II dem sozialpolitischen
Selbsthilfegrundsatz entsprechen. Nach diesem Prinzip sollen erwerbsfähige
Menschen ihrerseits alle Mittel ausschöpfen und Maßnahmen ergreifen, um ihre
Hilfebedürftigkeit zu beenden und letztlich dem (Erwerbs-)Arbeitsmarkt zur
Verfügung stehen zu können.
Der Gesetzgeber hat die Einfügung der Sanktionsnormen in das
SGB II mit diesem Grundsatz begründet:
„Das Prinzip des Fördern und Forderns besagt, dass eine
Person, die mit dem Geld der Steuerzahler in einer Notsituation unterstützt
wird, mithelfen muss, ihre Situation zu verbessern. Eine Person, die
hilfebedürftig ist, weil sie keine Arbeit findet, kann mit der Unterstützung
der Gemeinschaft rechnen. Im Gegenzug muss sie alles unternehmen, um ihren
Lebensunterhalt wieder selbst zu verdienen.“
Bundestags-Drucksache 17/3404, S. 110.
Die sozialpolitische Entscheidung des Gesetzgebers,
sein gesetzgeberisches Handeln an diesem Prinzip zu orientieren, ist verfassungsrechtlich
nicht geboten. Es findet seinen Niederschlag lediglich in einfachgesetzlichen Regelungen. Solche
müssen im Kollisionsfall mit verfassungsrechtlichen Vorgaben zurückstehen. Das gilt in besonderem
Maße bei einer Kollision mit dem nicht beschränkbaren Grundrecht auf Gewährleistung
eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 20
Abs. 1 GG.
Das Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich ein Menschenrecht konkretisiert:
BVerfG, 1 BvL 10/10 vom 18.7.2012, Abs.-Nr. 88.
Die Erfüllung eines Menschenrechts
darf nicht von Bedingungen abhängen.
Denn die Menschenwürdegarantie gilt absolut.
Das Bundesverfassungsgericht weist ausdrücklich darauf hin:
„Die in Art. 1 Abs. 1 GG
garantierte Menschenwürde ist
migrationspolitisch nicht zu
relativieren.“
BVerfG, 1 BvL 10/10 vom 18.7.2012, Abs.-Nr. 121.
Die Menschenwürde kann auch arbeitsmarktpolitisch oder
fiskalpolitisch nicht relativierbar sein.
Vgl. Nešković/Erdem, Zu den Auswirkungen der Entscheidung
des Bundesverfassungsgerichts zum Asylbewerberleistungsgesetz auf die
verfassungsrechtliche Beurteilung von Sanktionen bei Hartz IV, 30.7.2012, http://www.wirtschaftundgesellschaft.de/2012/07/menschenrecht-auf-existenz-ein-gastbeitrag-von-wolfgang-neskovic-und-isabel-erdem/ (abgerufen am
12.7.2013)
Im Hinblick auf die Unantastbarkeit
der Menschenwürde „darf ihre Beeinträchtigung nicht als Druckmittel eingesetzt werden.“
[Hervorh. d. Verf.]
SG Altenburg, S 21 AY 3362/12 ER vom 11.10.2012; ähnlich
SG Düsseldorf, S 17 AY 81/12 ER vom 19.11.2012, Rn. 11.
Das Bundesverfassungsgericht hat bereits 2005 entschieden,
dass die Pflicht zur Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens „unabhängig von den
Gründen der Hilfebedürftigkeit“ besteht.
BVerfG, 1 BvR 569/05 vom 12.5.2005, Rn 28.
Aus alledem folgt zwingend,
dass selbst bewusste
Zuwiderhandlungen von Leistungsberechtigte gegen den
Selbsthilfegrundsatz insoweit hingenommen
werden müssen, als es um den Kernbereich
der menschenwürdigen Existenz, d. h. Leistungen zur Deckung des
menschenwürdigen Existenzminimums geht. Dem Gesetzgeber bliebe es unbenommen,
in anderen Bereichen der (Sozial-)Leistungsvergabe das „Solidarprinzip“ zwischen
dem Einzelnen und der Gesellschaft mittels Selbsthilfeobliegenheiten
durchzusetzen. Doch im Bereich des unverfügbaren
Existenzminimums kann es keine
Obliegenheit des
Grundrechtsträgers geben, sich durch sein Verhalten den Anspruch auf die Gewährleistung des menschenwürdigen
Existenzminimums erst zu erwerben.
Die hiergegen teilweise angeführten Warnungen vor einer
„allgemeinen Mindestsicherung“ und das Argument der Unfinanzierbarkeit
vorbehaltloser Sozialleistungen, indem eine Kollision mit dem Lebensstandard
der übrigen Bevölkerung und demnach der „Rückgriff auf das Existenzminimum der
dann noch verbliebenen Steuerzahler“ drohe,
s. stellvertretend BSG-Urteil vom 22.4.2008 – B 1 KR
10/07, juris Rn. 31,
ist angesichts des vorhandenen Reichtums in unserer Gesellschaft
realitätsfern und läuft zudem auf eine unzulässige Abwägung „Menschenwürde
gegen Menschenwürde“ hinaus.
Vgl. Nešković/Erdem, Zur
Verfassungswidrigkeit von Sanktionen bei Hartz IV, SGb 2012, S. 134 ff. (140).
Neben der Unverfügbarkeit des Existenzminimums wird bei
dieser Argumentation häufig die gesellschaftliche Realität verkannt.
Es liegen bisher keine Zahlen darüber vor, inwieweit die in
§ 31 SGB II kodifizierten Pflichten Hilfebedürftige in Erwerbsarbeit
befördern, also zur Erleichterung des Sozialsystems überhaupt geeignet sind. Im
Gegenteil spricht einiges gegen diese Annahme: Oft werden Leistungsberechtigten
befristete oder gering bezahlte Tätigkeiten oder teure Fortbildungsmaßnahmen
zugewiesen, deren Erfolge zur Integration in den ersten Arbeitsmarkt als gering
eingeschätzt werden. Die damit verbundenen Zahlungen an die Träger solcher
Maßnahmen belasten den Steuerzahler erheblich:
vgl. z. B. Bericht des WDR „Sinnlos zur Weiterbildung
verdonnert“, vom 31.1.2013: http://www1.wdr.de/themen/wirtschaft/hartzvier112.html (abgerufen am 12.7.2013)
Unter den gegenwärtigen Bedingungen sind auf dem ersten
Arbeitsmarkt schlicht nicht genug akzeptabel bezahlte Arbeitsplätze vorhanden:
Die Zahl derer, die nicht oder unzureichend verdienen und so das Sozialsystem
belasten, übersteigt die Anzahl verfügbarer ausreichend entlohnter
Arbeitsstellen um ein Vielfaches:
vgl. nur Statistik der BA: http://www.sozialpolitik-aktuell.de/tl_files/sozialpolitik-aktuell/_Politikfelder/Arbeitsmarkt/Datensammlung/PDF-Dateien/abbIV32.pdf (abgerufen am 12.7.2013)
Dieses Missverhältnis führt zwangsläufig dazu, dass
die jeweils Erwerbstätigen durch ihre Einzahlung in die Sozialsysteme das
Überleben einer gewissen Zahl nicht einzahlender Mitbürger dauerhaft mit
gewährleisten. Ob es sich dabei um Personen handelt, die vorübergehend oder auf
längere Zeit keinen Zugang zum Arbeitsmarkt finden oder ob es sich um Personen
handelt, die aufgrund wenig aussichtsreicher Perspektiven (Alter, Behinderung,
Betreuungsaufgaben oder Ausbildungsdefizite) oder aufgrund mangelnder Bereitschaft
zur Teilnahme an einer Maßnahme oder Aufnahme einer Arbeit oder wegen
unzureichender Eigenbemühungen dem Arbeitsmarkt entzogen sind, macht vom
Standpunkt der staatlichen Finanzierbarkeit keinen Unterschied. Angesichts
der sehr niedrigen Regelleistungen des SGB II im Vergleich zum
Durchschnittseinkommen der erwerbstätigen Bevölkerung kann auch nicht
angenommen werden, dass ohne Sanktionstatbestände ein solcher Anstieg der
Arbeitslosigkeit zu verzeichnen wäre, dass das deutsche Sozialsystem notstandsähnlich
gefährdet würde.
Die Folgen von disziplinierenden Sanktionen können zudem
durchaus kostenintensiver für das Sozialsystem sein als ein unveränderter
Leistungsbezug eines Minimalbeitrags. Der durch die Sanktionsdrohung erzeugte
Druck führt zu einem Anstieg der psychischen und physischen Krankheiten; durch
Leistungskürzungen kommt es außerdem verstärkt zu Mietschulden und sogar
Räumungen von Hilfebedürftigen Mietern. Sanktionierte sind zum Teil auf
Suppenküchen oder Obdachlosenunterkünfte angewiesen.
Vgl. zu den sozialen Auswirkungen von Sanktionen
Grießmeier, Der disziplinierende Staat, 2012, S. 48 ff.; Ames, Ursachen und
Auswirkungen von Sanktionen nach § 31 SGB II, 2009, S. 158.
Die daraus resultierenden steigenden Gesundheits- und andere
Kosten belasten das Sozialsystem zusätzlich.
Soziale Hilfen komplett zu entsagen und Bedürftige
gegebenenfalls verhungern zu lassen, ist in einem Sozialstaat schlicht
unzulässig und verfassungswidrig. Dann muss es aber bereits denknotwendig eine
unterste Grenze staatlicher Leistungen geben, die jedem Menschen „unabhängig
von den Gründen der Hilfebedürftigkeit“,
BVerfG
vom 12.5.2005 - 1 BvR 569/05, Rn. 28,
zugestanden werden. Es muss sich um Leistungen handeln, die
für seine menschenwürdige Existenz unbedingt notwendig sind. Dies ist
eine sozialstaatliche Verpflichtung. Zur Erfüllung dieser Aufgabe hat der Staat
„nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, sich mit den notwendigen
Mitteln auszustatten.“
Bryde, Steuerverweigerung und Sozialstaat, in
Aschke/Hase/Schmidt-De/ Caluwe (Hg.), Selbstbestimmung und Gemeinwohl,
Festschrift für Friedrich von Zezschwitz zum 70. Geburtstag, 2005, S. 326 ff.
Diese Wertentscheidung des Grundgesetzes ist unabänderlich, da sowohl die
Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG als auch das Sozialstaatsprinzip des Art. 20
Abs. 1 GG unter dem Schutz der Ewigkeitsklausel
des Art. 79 Abs. 3 GG stehen.
Soweit einfachgesetzliche Regelungen – aus welchen Gründen
auch immer, seien sie willkürlich, migrationspolitisch oder sozialpolitisch
intendiert – nicht nur zu einer verzögerten Auszahlung (z. B. wegen verspäteter
Antragstellung), sondern zu einer absoluten Unterschreitung dieses
Existenzminimums führen, sind sie daher verfassungswidrig.
Vorschlag:
AntwortenLöschenIm Text steht: "Es sind schlicht nicht genug akzeptabel bezahlte Arbeitsplätze vorhanden."
Das impliziert, dass es evtl. genügend Arbeitsplätze gibt, von denen jedoch viele schlecht bezahlt sind.
Besser: Es sind schlicht nicht genügend Arbeitsplätze sowie nicht genug akzeptabel bezahlte Arbeitsplätze vorhanden.
Siehe auch: http://statistik.arbeitsagentur.de/Navigation/Startseite/Startseite-Nav.html (zurzeit 437000 offene Stellen)
Liebe Grüße
Fiel mir auch auf.
LöschenAkzeptabel ist aber subjektiv.
Es sollte heißen: ...auskömmlich bezahlte... oder ...existenzsicherne...
Damit ist das subjektive Moment heraus.