Sonntag, 21. Juli 2013

Antrag: Sachverhalt

[In der Begründung des Antrages muss kurz und sachlich der konkrete Sachverhalt inkl. Vorgeschichte und der vorgeworfenen „Pflichtverletzung“ beschrieben werden.]

Antrag: Anhang: 6. Argumentationsmuster Aufspaltung des Existenzminimums


6. Argumentationsmuster Aufspaltung des Existenzminimums

Bei der verfassungsrechtlichen Begründung und Argumentation für die grundsätzliche Zulässigkeit von Sanktionen nach § 31 ff. SGB II erfolgt in der Fachliteratur meist eine weitergehende Aufteilung des Existenzminimums. Dabei wird ein Kernbereich des Existenzminimums ausgemacht, meist als „physisches Existenzminimum“ bezeichnet.

Burkiczak - BeckOK, SGB II § 31a Rn. 12; Berlit, info also 2011 Heft 2, 53, 54 f.; vgl. bereits BSG vom 22.4.2008 - B 1 KR 10/07, juris Rn. 31. Auch bezeichnet als „Menschenwürdesockel“ (Richers, Dominik/Köpp, Matthias, Wer nicht arbeitet, soll dennoch essen, DÖV 2010, 997, 1001) oder „absolutes Existenzminimum“ (Stellungnahme des Deutschen Richterbundes zur öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestages vom 6.6.2011, Nr. 3).

Lediglich dieser „Kern“ des Existenzminimums wird als unverfügbar angesehen.

Vgl. Burkiczak - BeckOK, SGB II § 31a Rn. 12 f.; Berlit, info also 2011 Heft 2, 53, 54 f.; Richers/Köpp, DÖV 2010, 997, 1000 f.; Lauterbach, ZFSH/SGB 2011, 584, 585.

Bezüglich des über das physische Überleben hinaus Erforderlichen wird dem Gesetzgeber die Möglichkeit zuerkannt, Leistungen gar nicht zu gewähren oder an Obliegenheiten zu knüpfen, solange dies nur verhältnismäßig geschehe.

So ist etwa Burkiczak der Auffassung, bei Leistungsminderungen bis zu 30 % bedürfe es einer Kompensation durch Sachleistungen nicht, weil „insofern das physische Existenzminimum nicht betroffen“ sei – eine solche Absenkung wirke sich „nur auf die Möglichkeiten zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben aus“.

Burkiczak - BeckOK, SGB II § 31a Rn. 12 f.

Ähnlich argumentiert Lauterbach, nach dem „im Einzelfall nicht das für die physische Existenz des Menschen unerlässliche Maß der staatlichen Leistungsgewährung“ unterschritten werden dürfe:

Lauterbach, ZFSH/SGB 2011, 584, 585.

Davilla ist der Ansicht, „aus der Tatsache, dass die Höhe der Regelleistung nicht verfassungswidrig ist“, ergäbe sich „die weiterhin bestehende Möglichkeit der Absenkung der Leistungen“, soweit sie den „Kern des Existenzminimums nicht beeinträchtigen“.

Davilla, SGb 2010, 557, 559.

Und Richers/Köpp halten das Grundrecht für in seinem „Randbereich (erweitertes Existenzminimum) der Abwägung mit anderen Verfassungsgütern zugänglich – und damit auch prinzipiell bedingbar“.

Richers/Köpp, DÖV 2010, 997, 1001.

Sie weisen gleichzeitig aber darauf hin, dass schon bei einer Kürzung des Leistungsanspruchs um 30 % die physische Existenz einen Menschen gefährdet sein kann:

Vgl. Richers/Köpp, DÖV 2010, 997, 1003 f.

Bei dieser Aufteilung in einen verfügbaren Außenbereich und einen unverfügbaren Kernbereich wird die Wertung des Bundesverfassungsgerichts verkannt, nach der der verfassungsrechtliche Leistungsanspruch das „gesamte Existenzminimum“ durch eine „einheitliche grundrechtliche Garantie gewährleistet, die neben der physischen Existenz des Menschen auch die Sicherung der „Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben umfasst“.

BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 135.

Der gesetzliche Leistungsanspruch muss „stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers“ decken. [Hervorh. d. Verf.]

BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 137.

Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen ist der Aufspaltung des Existenzminimums erst kürzlich argumentativ entgegen getreten:

„Eine derartige Aufspaltung des Existenzminimums in einen unantastbaren physischen Kernbereich und einen ganz oder teilweise vernachlässigungsfähigen gesellschaftlich-kulturellen Teilhabebereich ist jedoch mit dem einheitlichen Gewährleistungsumfang des Grundrechts unvereinbar. Denn bietet Art. 1 Abs. 1 i.Vm. Art. 20 Abs. 1 GG - so ausdrücklich das BVerfG (vgl. a.a.O. Rn. 90 und 129) - eine einheitliche grundrechtliche Garantie auf die zur Wahrung eines menschenwürdigen Existenzminimums notwendigen materiellen Voraussetzungen, so lässt dies keinen Raum für eine Reduzierung des Grundrechts auf einen Kernbereich der physischen Existenz. Das Minimum für die Existenz bezeichnet vielmehr bereits denklogisch einen nicht unterschreitbaren Kern. Der gesamte Leistungsumfang des Existenzminimums muss somit zugleich sein Mindestinhalt sein (so auch Neskovic/Erdem, Zur Verfassungswidrigkeit von Sanktionen bei Hartz IV - Zugleich eine Kritik am Bundesverfassungsgericht, in SGb 2012, S. 134 ff., 137), der ,in jedem Fall und zu jeder Zeit` gewährleistet sein muss.“ [Hervorh. d. Verf.]

Landessozialgericht NRW, L 20 AY 153/12 B ER, 24.4.2013, Rn. 55.

 

 

Antrag: Anhang: 5. Eingeschränkte Kritik an den gegenwärtigen Sanktionsregelungen


5. Eingeschränkte Kritik an den gegenwärtigen Sanktionsregelungen

Ein großer Teil der Literatur hält Sanktionen mit Einschränkungen für zulässig, wobei die geltende Rechtslage häufig als verfassungsrechtlich problematisch bezeichnet wird.

Insbesondere wird dabei mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz argumentiert.

So hält z. B. Lauterbach das Entfallen der Bedarfe nach § 22 SGB II für bedenklich:

Lauterbach, Verfassungsrechtliche Probleme der Sanktionen im Grundsicherungsrecht, ZFSH/SGB 2011, S. 585.

Auch hält er die Verhängung einer Sanktion von 60 % bzw. 100 % ohne die Gewährung von Sachleistungen für in der Regel unverhältnismäßig, wenn eine angemessene Lebensmittelversorgung anderweitig nicht gewährleistet ist:

vgl. Lauterbach, in: Gagel, SGB II, 48. Ergänzungslieferung 2013, § 31, Rn. 2.

Zudem kritisiert er die „Funktion einer `Strafnorm` mit generalpräventivem Charakter und sieht in den starren Rechtsfolgen der Sanktionsnormen einen Konflikt mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz:

Lauterbach, Verfassungsrechtliche Probleme der Sanktionen im Grundsicherungsrecht, ZFSH/SGB 2011, 584, 586.

Berlit, der Leistungskürzungen grundsätzlich für verfassungsrechtlich zulässig hält, schränkt in gleichem Atemzug ein:

Dies bedeutet [...] nicht, dass das geltende Sanktionssystem in all seinen Ausformungen verfassungsrechtlich unbedenklich ist. [...] Der Gesetzgeber darf auch bei grob pflichtwidrigem Handeln den Leistungsberechtigten nicht in eine Situation bringen, in der das physische Existenzminimum aktuell nicht gewährleistet ist und der Leistungsberechtigte auch sonst keine Chance hat, sich die hierfür erforderlichen Mittel legal kurzfristig anderweitig zu beschaffen.“ [Hervorh. d. Verf.]

Berlit, Minderung der verfügbaren Mittel – Sanktionen und Aufrechnung im SGB II, ZFSH/SGB 2012, 562 ff. (567),

Schnath vertritt die Auffassung, dass zumindest „das zum Überleben Notwendige sicher zu stellen ist“ und ein Sanktionsregime, welches das Überlebensnotwendige – auch zeitweise – nicht sichert, verfassungswidrig  sei:

Schnath, Das neue Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, NZS 2010, S. 301.

Herold-Tews hält es für problematisch, dass § 31a SGB II keine Härteregelungen vorsieht:

Herold-Tews, in: Löns/Herold-Tews, SGB II, Grundsicherung für Arbeitssuchende, 3. Auflage, 2011, § 31 a, Rn. 27.

Hirschboeck formuliert hinsichtlich einer vollständigen Leistungsstreichung verfassungsrechtliche Bedenken:

Hirschboeck, Sozialhilfemissbrauch in Deutschland aus juristischer Sicht, 2004, S. 114 f.

Sonnhoff hält einen Verstoß gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip für möglich, wenn eine Sanktion von 100 % über drei Monate verhängt werden könnte. Dabei sei besonders problematisch, dass auch die Kosten für Unterkunft entfallen. 

Sonnhoff, in: Radüge, jurisPK-SGB II, 3. Auflage, 2012, § 31 a, Rn. 25. 

Berlit führt aus, dass Zeitdauer und Umfang der Minderung zu unflexibel seien:

Berlit, in: Münder, LPK-SGB II, § 31 a, Rn. 5.

Ähnlich wird argumentiert, dass die sachbearbeitende Person derzeit keine Möglichkeit habe, auf besondere Härten im Einzelfall einzugehen.

Vgl. hierzu: Loose, Sanktionierung von Pflicht und Obliegenheitsverletzungen im Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende, ZFSH/SGB 2010, S. 345.

Auch nach Lauterbach widerspricht „die Starrheit des Sanktionsmechanismus“ dem Ziel der Aktivierung und gebe den Regelungen „Strafcharakter“:

Lauterbach, in: Gagel, SGB II, 48. Ergänzungslieferung 2013, § 31, Rn. 1.

Köpp/Richers halten das Antragserfordernis und das Ermessen der Verwaltung bei der Sachleistungsvergabe für verfassungsrechtlich problematisch und befürworten zudem eine Sachleistungsgewährung, die den Betroffenen zum einen die Möglichkeit von Alternativen gewährt und zum anderen keine diskriminierende Wirkung entfaltet.

Köpp/Richers, Wer nicht arbeitet, soll dennoch essen, DÖV 2010, S. 1000.

 

Antrag: Anhang: 4. Grundsätzliche Befürwortung der Sanktionstatbestände


4. Grundsätzliche Befürwortung der Sanktionstatbestände

Diejenigen Teile der rechtswissenschaftlichen Literatur, die Sanktionen für grundsätzlich zulässig erachten, fassen diese als Mitwirkungsobliegenheiten auf, bei deren Nichterfüllung eine Verkürzung des regulären Leistungsanspruchs trotz der Unverfügbarkeit des Grundrechts für zulässig erachtet wird:

vgl. Knickrehm, Arbeitsmarktpolitik und Sanktionen im SGB II und SGB III - Entwicklung, Auswirkungen und Wirkungen, ArbuR 2011, 237, 239; Lauterbach, ZFSH/SGB 2011, 584; Burkiczak, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, Beck'scher Online Kommentar, Stand: 1.12.2012, § 31 a, Rn. 12 f; Berlit, Das neue Sanktionensystem, ZFSH/SGB 2006, S. 15.

Der sanktionierte Hilfebedürftige wird danach als vermindert schutzwürdig angesehen. Entsprechend stellt sich auch ein zeitweilig "hinreichend begründeter vollständiger Verzicht auf Versorgung" nicht einmal als ermessensfehlerhaft dar.

Vgl. Burkiczak, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, Beck'scher Online Kommentar, Stand: 1.12.2012, § 31a SGB II, Rn. 13.

Zugleich wird laut Burkiczak durch § 31 a Abs. 3 S. 1 SGB II angeblich sichergestellt, dass die „letzte Grundversorgung“ erhalten bleibe, so dass der erwerbsfähige Leistungsberechtigte nicht in seiner Existenz gefährdet werde:

Burkiczak, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, Beck'scher Online Kommentar, Stand: 1.12.2012, § 31 a SGB II, Rn. 12.

Ähnlich wie Burkiczak äußert der überwiegende Teil der grundsätzlichen Sanktionsbefürworter zugleich verfassungsrechtliche Kritik an der konkreten gesetzlichen Ausgestaltung und schränkt ihre Auffassung von der Zulässigkeit von Sanktionen somit selbst wieder ein.

 

Antrag: Anhang: 3. Die Rechtsprechung zu §§ 31 ff. SGB II


3. Die Rechtsprechung zu §§ 31 ff. SGB II

Im Bereich des SGB II ist bislang keine solche Reaktion infolge des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zum Asylbewerberleistungsgesetz zu verzeichnen. Allerdings erscheint dort eine vergleichbare verfassungskonforme Auslegung der §§ 31 ff. SGB II auch nicht möglich.

Zur Unmöglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung s. Vorlageantrag unter 3.

Einige Sozialgerichte und Landessozialgerichte halten jedoch die Sanktionierung um 100 % für verfassungswidrig, wenn dadurch das „physische Existenzminimum des Hilfebedürftigen nicht mehr gesichert ist und der Grundsicherungsträger nicht zugleich ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen gewährt“:

so SG Berlin vom 19.8.2009 – S 26 AS 5380/09, juris Rn. 29 f., im Anschluss an Landessozialgericht Berlin 10. Senat vom 16. Dezember 2008 - L 10 B 2154/08 AS ER-, Rn. 10); vgl. auch LSG Niedersachsen, Beschluss vom 21.4.2010 – L 13 AS 100/10 B ER, Rn. 7 f.

Von den meisten Sozialgerichten werden die §§ 31 ff. SGB II indes schlicht ohne Erörterung angewendet, d. h. offenbar für verfassungsrechtlich unproblematisch erachtet. Eine nähere Begründung und entsprechend eine argumentative Auseinandersetzung mit der vorgebrachten verfassungsrechtlichen Kritik erfolgt dabei meist nicht.

Auch das Bundessozialgericht sah jedenfalls bis 2010 keine Bedenken bei der Anwendung von Sanktionen, wenn Sachleistungen angeboten worden sind und von diesen auch tatsächlich Gebrauch gemacht worden ist. Entsprechend hat es die Entscheidung für entbehrlich gehalten, ob die bestehenden Sanktionsmöglichkeiten „als ein dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns genügender Ausdruck der verfassungsrechtlich bestehenden Selbsthilfeobliegenheit als Kehrseite der Gewährleistungspflicht des Staates anzusehen sind.“

BSG, Urteil vom 9.11.2010 – B 4 AS 27/10 R, juris Rn. 34.

 

Antrag: Anhang: 2. Die Rechtsprechung zu § 1 a AsylbLG


2. Die Rechtsprechung zu § 1 a AsylbLG

Dieser verfassungsrechtlichen Argumentation sind infolge der Entscheidung des BVerfG vom 18.7.2012 nicht nur Teile der Literatur,

vgl. Classen/Kanalan, Verfassungsmäßigkeit des Asylbewerberleistungsgesetzes, in: info also 06/2010, S. 243 – 249,

sondern auch eine Reihe von Sozialgerichten und Landessozialgerichten gefolgt – im Bereich der Sanktionen im Asylbewerberleistungsgesetz (§ 1a AsylbLG).

Im Anschluss an das SG Altenburg, S 21 AY 3362/12 ER und das SG Lüneburg, S 26 AY 4/11, hat das Sozialgericht Düsseldorf am 19.11.2012 erkannt:

„Die nicht zu unterschreitende Grenze einer Anspruchseinschränkung ist [...] das verfassungsrechtlich garantierte Existenzminimum gem. Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG zur Führung eines menschenwürdigenden Lebens [...] Dies gilt ebenfalls für das soziokulturelle Existenzminimum.“ [Hervorh. d. Verf.]

SG Düsseldorf, Beschluss vom 19.11.2012, S 17 AY 81/12 ER, juris Rn. 10.

Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen hat am 24.4.2013 ausgeführt, die nähere Charakterisierung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums durch das BVerfG erscheine „in einer Weise unmissverständlich und insbesondere vorbehalt- bzw. bedingungslos (vgl. o.), dass für Leistungsabsenkungen auf ein Niveau unterhalb von das Existenzminimum sichernden Leistungen kein Raum bleibt […] Denn bietet Art. 1 Abs. 1 i.Vm. Art. 20 Abs. 1 GG - so ausdrücklich das BVerfG (vgl. a.a.O. Rn. 90 und 129) - eine einheitliche grundrechtliche Garantie auf die zur Wahrung eines menschenwürdigen Existenzminimums notwendigen materiellen Voraussetzungen, so lässt dies keinen Raum für eine Reduzierung des Grundrechts auf einen Kernbereich der physischen Existenz. [...] Auch ein weiter Gestaltungsspielraums erlaubt jedoch nicht eine Leistungsgewährung unterhalb des vom Gesetzgeber selbst als derzeit anzuerkennen festgelegten Existenzminimums.“ [Hervorh. d. Verf.]

Landessozialgericht NRW, L 20 AY 153/12 B ER, 24.4.2013, Rn. 53 ff.

Eine beachtliche Anzahl von Sozial- und Landessozialgerichten wenden mittlerweile die Vorschrift des § 1a AsylbLG (Leistungskürzung aufgrund missbräuchlicher Einreise oder mangelnder Mitwirkung an aufenthaltsbeendenden Maßnahmen) – durch eine dort mögliche „verfassungskonforme Auslegung“ – de facto nicht mehr an. Einige geben bereits im einstweiligen Rechtsschutz (!) den Klägern Recht und halten eine Kürzung „nach § 1a AsylbLG auf ein Niveau unterhalb des Existenzminimums“ für unzulässig oder halten die Zulässigkeit zumindest für offen:

vgl. LSG NRW, L 20 AY 153/12 B ER, 24.4.2013, Rn. 45, 53 mit Verweis auf LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 6.2.2013 - L 15 AY 2/13 B ER; SG Lüneburg, Beschluss vom 13.12.2012 - S 26 AY 26/12; SG Düsseldorf, Beschluss vom 19.11.2012 - S 17 AY 81/12 ER; SG Altenburg, Beschluss vom 11.10.2012 - S 21 AY 3362/12 ER; SG Köln, Beschluss vom 25.1.2013 - S 21 AY 6/13 ER; SG Leipzig, Beschluss vom 20.12.2012 - S 5 AY 55/12 ER; SG Gelsenkirchen, Beschluss vom 21.1.2013 - S 32 AY 120/12; SG Magdeburg, Beschluss vom 24.1.2013 - S 22 AY 25/12 ER; SG Stade, Beschluss vom 28.1.2012 - S 19 AY 59/12 ER; SG Würzung, Beschluss vom 1.2.2013 - S 18 AY 1/13 ER.

 

Antrag: Anhang: 1. Grundsätzliche Kritik an Leistungskürzungen nach dem SGB II


1. Grundsätzliche Kritik an Leistungskürzungen nach dem SGB II

Sanktionen werden von Juristen, Sozialarbeitern und Politikern verschiedener Parteien seit Jahren zum Teil aufs Heftigste kritisiert. Sie werden in erster Linie für politisch verfehlt bzw. nicht sachdienlich gehalten:

Vgl. nur Götz/Ludwig-Mayerhofer/Schreyer, Sanktionen im SGB II - Unter dem Existenzminimum, IAB-Kurzbericht 10/2010; Bündnis für ein Sanktionsmoratorium: http://www.sanktionsmoratorium.de/pdfs/aufruf_lang_web.pdf; Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Reform der Sanktionen im SGB II, Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge, 11.6.2013, DV 26/12 AF III; Ames, Anne, Ursachen und Auswirkungen von Sanktionen nach § 31 SGB II, 2009, S. 12 ff.; Grießmeier, Nicolas, Der disziplinierende Staat, 2012, S. 40 ff.; Niedersachsen kündigt Bundesratsinitiative zum Sanktionsstopp an: http://www.paz-online.de/Nachrichten/Politik/Niedersachsen/ Niedersachsen-fordert-Stopp-von-Hartz-IV-Strafen; Antrag der LINKEN auf Abschaffung der Sanktionen: dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/051/1705174.pdf; Position der GRÜNEN: http://www.gruene-bundestag.de/parlament/bundestagsreden/2013/april/hartz-iv-sanktionen_ ID_4388231.html. (Links abgerufen am 12.7.2013)

Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 9.2.2010 wurde in der rechtswissenschaftlichen Literatur auf die verfassungsrechtliche Problematik von Sanktionen im SGB II hingewiesen.

So bemerkte Rixen als Reaktion auf die BVerfG-Entscheidung:

„Trotz der vergleichsweise knapp bemessenen Zeit empfiehlt es sich für den Gesetzgeber zu prüfen, ob die Absenkungsregeln des § 31 SGB II dem Grundrecht auf Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums standhalten.“ [Hervorh. d. Verf.]

Rixen, in: SGb 2010, 240-245 (245); vgl. derselbe in: Fordern oder Fördern? Rechtliche Grenzen der Arbeitsmarktpolitik durch Sanktionen, in: Transmission 05, 2011, Wege aus dem Abseits: Sanktionen und Anreize in der Sozialpolitik, S. 32 ff. (51).

Er stellte die Frage: „Darf die Sanktion so weit gehen, dass das Existenzminimum nicht mehr gesichert ist?“ [...] Wenn aber die Leistungen durch eine Sanktion nach § 31 SGB II ‚auf Null` abgesenkt werden, dann ist evident nichts mehr da, dann ist das Existenzminimum nicht beziehungsweise kaum noch gesichert; sieht man einmal davon ab, dass der Leistungsträger nach Ermessen noch bestimmte Leistungen erbringen kann, etwa bei den unter 25-Jährigen für Unterkunft und Heizung.“

Rixen, Stephan, in: Fordern oder Fördern? Rechtliche Grenzen der Arbeitsmarktpolitik durch Sanktionen, in: Transmission 05, 2011, Wege aus dem Abseits: Sanktionen und Anreize in der Sozialpolitik, S. 32 ff. (51 f.)

Angermeier kommentierte das Urteil des Bundesozialgerichts vom 9.11.2010 vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit folgenden Worten:

„Die Aussage des BSG, es bedürfe in einem Fall der Absenkung bzw. Minderung des Arbeitslosengeld II wie hier für vier Monate um 20 v. H. bzw. 30 v. H. der maßgebenden Regelleistung keiner weiteren Prüfung eines Verstoßes gegen verfassungsrechtliche Normen, wenn der Grundsicherungsträger zeitgerecht ergänzende Sachleistungen in angemessenem Umfang angeboten habe, die von den Hilfebedürftigen auch in Anspruch genommen worden seien, wird dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG) womöglich nicht gerecht. [...] Die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit kommen nicht umhin, sich ihrer Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) bewusst zu werden und gewissenhaft zu prüfen, ob in einem bei ihnen anhängigen Verfahren, bei dem die §§ 31 ff. SGB II eine Rolle spielen, nicht eine Vorlage an das BVerfG (Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG) angezeigt ist.“ [Hervorh. d. Verf.]

Angermeier, Anmerkung zu Urteil des BSG vom 9.11.2010 - B 4 AS 27/10 R, in: jurisPR-SozR 6/2012 Anm. 2.

In der rechtswissenschaftlichen Literatur sind diverse Versuche unternommen worden, die Verfassungswidrigkeit der Sanktionsregelungen im Detail zu belegen.

Vgl. z. B. Däubler: Absenkung und Entzug des ALG II – ein Lehrstück zur Verfassungsferne des Gesetzgebers, in: info also, 2/2005, S. 51 ff.; RA Mundt, Hartz IV – Rechtsprobleme des SGB II und seiner Anwendung, Expertise im Auftrag der Bundestagsfraktion DIE LINKE, 2008, S. 25 ff.

Grießmeier forderte bereits 2009 aufgrund eines Verstoßes gegen „Art. 20 in Verbindung mit Art. 1 Soziokulturelles Existenzminimum“ eine entsprechende Verfassungsbeschwerde:

Vgl. Grießmeier, Der disziplinierende Staat, S. 62 ff.

Nešković/Erdem formulieren grundsätzliche verfassungsrechtliche Kritik am bestehenden System der Sanktionen nach den §§ 31 ff. SGB II. Ausgehend von der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 9.2.2010, halten sie jede Kürzung der Regelsätze durch die Verwaltung für einen unzulässigen Eingriff in das (durch den Gesetzgeber mit dem RBEG konkretisierte) Grundrecht auf Zusicherung des menschenwürdigen Existenzminimums:

Nešković/Erdem, Zur Verfassungswidrigkeit von Sanktionen bei Hartz IV – Zugleich eine Kritik am Bundesverfassungsgericht, in: SGb 2012, S. 134 ff.; dieselben, Für eine verfassungsrechtliche Diskussion über die Menschenwürde von Hartz-IV-Betroffenen, in: SGb 2012, 326 ff.

Antrag: ANHANG – Meinungsstand in Literatur und Rechtsprechung


ANHANG – Meinungsstand in Literatur und Rechtsprechung:

In der Literatur und in der Rechtsprechung ist die Frage der Verfassungskonformität von Leistungskürzungen nach §§ 31 ff. SGB II bzw. die Möglichkeit der verfassungskonformen Auslegung und Anwendung der einzelnen Sanktionstatbestände z.T. heftig umstritten.

 

Antrag: 4. Ergebnis


4. Ergebnis

§ 31a i. V. m. § 31 und § 31b SGB II sowie § 32 SGB II [§ 32 ggf, streichen!] verstoßen gegen Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG, Art. 3 Abs. 1 GG, Art. 12 Abs. 1 GG und sind verfassungswidrig. Sie sind nicht verfassungskonform auslegbar.

Das Gericht hat das Verfahren gemäß Art. 100 Abs. 1 GG i. V. m. § 80 Abs. 1 BVerfGG auszusetzen und dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorzulegen, ob die §§ 31, 31a, 31b, 32 SGB II vereinbar sind mit dem Grundgesetz, insbesondere mit Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG, Art. 12 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG und Art. 3 Abs. 1 GG. [bei Ü-25-Sanktionen Art. 3 bitte streichen!]

 

Antrag: d) Zwischenergebnis:


d) Zwischenergebnis:

Nach alledem scheidet eine verfassungskonforme Auslegung der streitgegenständlichen Normen aus.

 

Antrag: c) Keine verfassungskonforme „Anwendung“ durch § 31 a Abs. 3 SGB III


c) Keine verfassungskonforme „Anwendung“ durch § 31 a Abs. 3 SGB III

Im Bereich der Sanktionen zwischen 30 % und 100 % lässt sich ebenfalls keine verfassungskonforme Auslegung erreichen. Insbesondere durch ein Zusammenspiel der § 31a Abs. 1 SGB II i. V. m. § 31a Abs. 3 SGB II ist keine Verfassungskonformität herstellbar.

Eine Einzelfallentscheidung der Verwaltung über die Vergabe von Sachleistungen kann bereits per se unmöglich einen Verfassungsverstoß beheben, der in einer anderen, sie bedingenden Rechtsnorm selbst begründet liegt.

Eine solche „verfassungskonforme Anwendung“ durch Zusammenlesen der Sanktionsnormen mit der Sachleistungsregelung des § 31a Abs. 3 SGB II wird jedoch in der Literatur zum Teil propagiert:

vgl. z. B. Davilla, SGb 2010, 557, 559 und Lauterbach, ZFSH/SGB 2011, 584, 585; auch Stellungnahme des DRB zur öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestags vom 6.6.2011, Nr. 3. Annahme einer Verfassungswidrigkeit insoweit: Richers/Köpp, DÖV 2010, 997, 1003 f.

Auch in der Rechtsprechung wird diese „Lösung“ zur Anwendung der Sanktionsnormen offenbar vertreten, z. B. indem Sanktionen um 100 % für verfassungswidrig gehalten werden, sofern der Grundsicherungsträger nicht zugleich ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen gewährt[Hervorh. d. Verf.],

so SG Berlin vom 19.8.2009 – S 26 AS 5380/09, juris Rn. 29 f., im Anschluss an Landessozialgericht Berlin 10. Senat vom 16.12.2008 - L 10 B 2154/08 AS ER-, Rn. 10); vgl. auch LSG Niedersachsen, Beschluss vom 21.4.2010 – L 13 AS 100/10 B ER, Rn. 7 f.

Doch zum einen bleibt die Sanktion in Höhe von mindestens 30 % in allen darüber liegenden Sanktionsfällen trotz der Sachleistungsvergabe bestehen. Eine Kompensation durch Sachleistungen kommt überhaupt nur bei Sanktionen ab 40 % (bis zu einer Höhe von ca. 46 % des Regelbedarfs) in Betracht. Da nach dem Gesetzgeber allein der volle Regelsatz das menschenwürdige Existenzminimum sicherstellt (100 % des Regelbedarfs, eventueller Mehrbedarfe und der Kosten für Unterkunft und Heizung nach §§ 20 ff. SGB II), scheidet eine verfassungskonforme Anwendung bereits aus diesem Grund aus.

Zum anderen ist in diesen Fällen die Gewährleistung von Sachleistungen von der Antragstellung durch den Betroffenen abhängig. D. h., es braucht ein aktives Verhalten des (meist gerade aufgrund seiner fehlenden Aktivität sanktionierten) Bedürftigen als Zwischenschritt, um überhaupt eine Kompensationsmöglichkeit zu erreichen. Selbst dann liegt die Bewilligung der Sachleistungen noch im Ermessen der Verwaltungsbehörde.

Das in § 31a Abs. 3 S. 1 SGB II festgelegte Ermessen bei der Sachleistungsgewährung, wonach „der Träger auf Antrag in angemessenem Umfang ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen erbringen (kann)“ [Hervorh. d. Verf.], lässt sich schwerlich als gebundene Entscheidung lesen.

Eine solche Auffassung, das „kann“ im Gesetzestext als „muss“ auszulegen, widerspräche dem eindeutigen Wortlaut der Norm und überschreitet damit die Grenze zulässiger Auslegung.

Außerdem hat der Gesetzgeber eine Ermessenregelung gerade beabsichtigt. Denn nach § 31a Abs. 3 S. 2 SGB II „hat“ der Träger in Fällen, in denen minderjährige Kinder im Haushalt des Bedürftigen leben, die Leistungen zu erbringen. Hier wurde der Verwaltung vom Gesetzgeber also in bewusstem Gegensatz zum Vorsatz kein Ermessenspielraum zugestanden. Dem entspricht die Gesetzesbegründung, in der explizit festgehalten wurde, dass die „Erbringung von Sachleistungen an Bedarfsgemeinschaften mit minderjährigen Kindern als Verpflichtung zur Leistungserbringung“ [Hervorh. d. Verf.] auszugestalten sei.

Bundestags-Drucksache 17/3404, S. 112.

Daraus ergibt sich im Umkehrschluss, dass eine zwingende Sachleistungsvergabe eben gerade nicht für die übrigen Haushalte gelten sollte.

Eine Ermessensreduzierung auf Null bei der Sachleistungsvergabe zumindest im Fall einer 100-%-Sanktion anzunehmen – wie in der Literatur und Rechtsprechung zum Teil befürwortet – scheidet gleichfalls aus. Sie könnte ebenfalls lediglich zur Abmilderung der (von Grund auf verfassungswidrigen) Folgen einer hohen Leistungskürzung führen, den Verfassungsverstoß selbst jedoch nicht beseitigen.

Ebenso scheidet es aufgrund des eindeutigen Wortlauts („auf Antrag“) aus, in diesen Fällen Sachleistungen etwa ohne Antrag zu gewähren.

Auch die Gewährung staatlicher Leistungen über „Umwege“ durch kompensatorische Zuschläge an die übrigen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft

(vgl. zu diesem Vorschlag Geiger, info also 1/2010, S. 1 ff. (9)),

würde bloß zu einer Umgehung der unmissverständlichen gesetzlichen Regelung führen.

Wenn das Verwaltungshandeln jedoch nur dann das Existenzminimum sicherstellt, wenn es gerade nicht auf Grundlage sondern entgegen einer leistungskürzenden Rechtsnorm Leistungen gewährt, kann es offensichtlich nicht zu einer verfassungskonformen Auslegung der leistungskürzenden Rechtsnorm führen. Im Gegenteil ist dann in Wirklichkeit deren Nichtanwendung im Einzelfall die Voraussetzung für die Sicherstellung des menschenwürdigen Existenzminimums.

Die an dieser Stelle lediglich angedeuteten, teilweise geradezu akrobatischen „Lösungen“ der rechtswissenschaftlichen Literatur zur verfassungskonformen Auslegung der Sanktionsnormen laufen im Ergebnis allesamt auf die Aufrechterhaltung bestimmter notwendiger Leistungen trotz des tatbestandlichen Eingreifens der §§ 31a ff. SGB II hinaus. Sie führen damit zu einer Umgehung des Wortlauts der Norm und laufen der gesetzgeberischen Intention zuwider, die gerade in der engen und ausnahmslosen Verknüpfung der staatlichen Leistungsgewährung mit Pflichten des Hilfebedürftigen liegt und damit bewusst von den individuellen Bedarfen der Sanktionierten abstrahiert.

 

Antrag: b) Keine verfassungskonforme Auslegung des § 31 a Abs. 1 und 2 SGB II


b) Keine verfassungskonforme Auslegung des § 31 a Abs. 1 und 2 SGB II

Bei Leistungskürzungen nach § 31a, § 31b, § 32 SGB II [ggf. § 32 streichen!] kommt eine verfassungskonforme Auslegung nicht in Betracht, weil sie contra legem wäre.

Der Wortlaut des § 31a Abs. 1 und 2 SGB II und des § 32 SGB II [ggf. § 32 streichen!] ist eindeutig, entspricht der in der Gesetzesbegründung offengelegten Absicht des Normgebers und lässt keinen Beurteilungsspielraum zu.

Einzige Tatbestandsvoraussetzung für eine Sanktion ist eine Pflichtverletzung nach § 31 SGB II. Der in § 31 Abs. 1 S. 2 SGB II normierte unbestimmte Rechtsbegriff des „wichtigen Grundes" kommt nicht als Abwägungskriterium in Betracht, da er nur zur Definition der Pflichtverletzung führt, die anschließende Rechtsfolge sich aber allein nach § 31a SGB II bestimmt. Eine Pflichtverletzung nach § 31 SGB II muss erst festgestellt sein, bevor § 31a Abs. 1 und 2 SGB II zur Anwendung kommt. Im Anwendungsbereich der Sanktionsnorm gibt es somit überhaupt keine Entscheidungsmöglichkeit für die Verwaltung mehr.

Auch ist die Definition des „wichtigen Grundes“ bereits detailliert von der Rechtsprechung (durch eine Analogie zum SGB III) vorgenommen worden. Als wichtige Gründe gelten alle Umstände des Einzelfalls, die unter Berücksichtigung der berechtigten Interessen des Leistungsberechtigten in Abwägung mit etwa entgegenstehenden Belangen der Allgemeinheit das Verhalten des Hilfebedürftigen rechtfertigen.

Vgl. Knickrehm - Kreikebohm, Kommentar zum Sozialrecht, 2. Auflage 2011, Rn. 24; BSG 9.11.2010 – B 4 AS 27/10 R; vgl. auch Mutschler, § 144 SGB III; ABC des wichtigen Grundes bei Winkler in: Gagel, § 144 SGB III-Anhang; ähnlich Valgolio in: Hauck/Noftz SGB II, § 11 Rn. 74; zum SGB III BSG, 12.7.2006 – B 11 a AL 55/05 R.

Die Tatbestände des § 31 SGB II entfallen nur, wenn der erwerbsfähige Leistungsberechtigte einen wichtigen Grund für sein Verhalten darlegt und nachweist. Wichtige Gründe können z. B. im beruflichen oder persönlichen Bereich des erwerbsfähigen Leistungsberechtigten liegen. Ein wichtiger Grund muss jedoch objektiv vorliegen,

vgl. BSG NJW 2011, 2073, 2076; Berlit in: ZfSH/SGB 2008, 1 ff., 6; Sonnhoff in juris-PK SGB II, Stand 15.8.2011, § 31 Rn. 104; Valgolio in: Hauck/Noftz, SGB II, Stand 11/2011, § 31 Rn. 167; Knickrehm/Hahn in: Eicher, SGB II, 3. Auflage 2013, Rn 63 ff.

Diese Definition bietet gerade keinen Raum für eine rechtsfolgenbezogene Abwägung derart, dass etwa auch die unverhältnismäßigen Folgen einer Sanktion den Tatbestand entfallen lassen könnten.

Auch auf Rechtsfolgenseite findet sich bei § 31a ff. SGB II kein unbestimmter Rechtsbegriff. Im Unterschied zu § 1a AsylbLG sowie zur früheren Vorschrift des § 25 BSHG findet durch §§ 31a, 32 SGB II keine Absenkung der Leistung auf das „nach den Umständen unabweisbar Gebotene“ bzw. das „zum Lebensunterhalt Unerlässliche“ statt, sondern es werden exakte prozentuale Leistungskürzungen (Sanktionsstufen) vorgegeben: um 10 % bzw. 30 %, 60 %, 100 %, sowie das völlige Entfallen des ALG-II-Anspruchs inklusive der Kosten für Krankenkasse und für Unterkunft und Heizung.

Auch hinsichtlich der Verhängung einer Sanktion sowie bezüglich der Dauer einer Leistungskürzung ist kein Ermessen der Verwaltung (z. B. durch Einzelfallprüfung oder Härtefallklausel) vorgesehen. § 31a SGB II etabliert sie vielmehr als zwingende Rechtsfolge ohne Ausnahmetatbestände. § 31b Abs. 1 S. 3 SGB II sieht zusätzlich eine starre Dauer des Minderungszeitraums von drei Monaten vor, einzig bei Unter-25-Jährigen kann er auf (wiederum starre) sechs Wochen reduziert werden.

An diese strikten gesetzlichen Vorgaben ist die Verwaltung aufgrund des Vorrangs des Gesetzes und sind auch die überprüfenden Gerichte in jedem Einzelfall gebunden. Eine Möglichkeit, durch eine Einzelfallabwägung eine Sanktion nicht zu verhängen oder diese aufgrund von Verhältnismäßigkeitserwägungen zu reduzieren

(zu dieser Möglichkeit bei Kürzungen des alten § 25 BSHG vgl. BVerwG, V C 109.66 vom 31.1.1968),

ist im SGB II nicht vorgesehen. Ausdrücklich wird durch § 21 b Abs. 2 SGB II auch das Ausweichen auf Leistungen des SGB XII verwehrt.

Eine Auslegung, die dazu führte, dass trotz Einschlägigkeit der §§ 31a ff. SGB II keine verminderten, sondern reguläre Leistungen entrichtet werden könnten (wie sie durch einige Gerichte im Bereich des § 1a AsylbLG erfolgt) wäre daher offensichtlich unzulässig.

Sie wird – soweit ersichtlich – auch weder in der Literatur noch in der Rechtsprechung vertreten.

 

Antrag: a) Allgemeine Auslegungsgrundsätze


a) Allgemeine Auslegungsgrundsätze

Eine Norm kann durch das Bundesverfassungsgericht nur dann für nichtig erklärt werden, wenn keine nach anerkannten Auslegungsgrundsätzen zulässige und mit der Verfassung zu vereinbarende Auslegung möglich ist:

vgl. nur BVerfGE 118, 212 (234); BVerfGE 49, 148 (157).

Die verfassungskonforme Auslegung als normbewahrendes Instrument ist Aufgabe aller Gerichte.

Vgl. Bethge in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, Bundesverfassungs-gerichtsgesetz, 39. Ergänzungslieferung 2013, § 31bVerfGG, Rn. 258 f. m. w. N.

Lassen Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Gesamtzusammenhang und Sinn und Zweck einer gesetzlichen Regelung mehrere Deutungen zu, von denen jedenfalls eine zu einem verfassungsgemäßen Ergebnis führt, muss eine Auslegung vorgenommen werden, die mit dem Grundgesetz in Einklang steht:

vgl. BVerfGE 69, 1 (55); 95, 64 (93).

Die verfassungskonforme Auslegung darf sich dabei aber nicht über die gesetzgeberischen Intentionen hinwegsetzen. Sie findet ihre Grenzen dort, wo sie zu dem Wortlaut und zum klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers in Widerspruch treten würde:

vgl. ständige Rspr., insb. BVerfGE 99, 341 (358); 101, 312 (329); 101, 397 (408); 119, 247 (274).

Gesetzgeberische Grundentscheidungen dürfen nicht angetastet werden. Einem eindeutigen Gesetz darf nicht ein entgegengesetzter Sinn gegeben werden. Es ist nicht Sache der Rechtsprechung, ein Gesetz derart auf eine verfassungsgemäße Fasson zurechtzustutzen, dass der Gesetzgeber es nicht wiedererkennt. Die verfassungskonforme Auslegung darf nicht zu einer verdeckten Normreformation führen:

vgl. BVerfGE 67, 299 (329); 95, 64 (93); 99, 341 (358); 118, 212 (234); BVerfGE 63, 131 (147 f.); Korioth – Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 9. Auflage 2012, 5. Teil, Rn. 449; Bethge in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 39. Ergänzungslieferung 2013, § 31bVerfGG, Rn. 265.

Daher sind es in erster Linie unbestimmte Rechtsbegriffe, die eine Auslegung und wertende Konkretisierung durch Verwaltung und Gerichte erfordern und zulassen.

Vgl. Aschke in: Bader/Ronellenfitsch, Beck'scher Online-Kommentar VwVfG, Stand: 1.4.2013, § 40, Rn. 24.

 

Antrag: 3. Verfassungskonforme Auslegung


3. Verfassungskonforme Auslegung

Die Leistungskürzungen nach § 31a i. V. m. § 31, 31b, 32 SGB II sind unter keinen erdenklichen Gesichtspunkten verfassungskonform auslegbar.

Antrag: cc) Zwischenergebnis:


cc) Zwischenergebnis: [diesen Punkt bei Ü-25-Jährigen streichen!]

Die schärferen Sanktionen für Unter-25-Jährige nach § 31a Abs. 2 i. V. m.  § 31, § 31b SGB II verletzen zusätzlich den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG.

Antrag: bb) Keine verfassungsrechtliche Rechtfertigung


bb) Keine verfassungsrechtliche Rechtfertigung [diesen Punkt bei Ü-25-Jährigen streichen!]

Diese Ungleichbehandlung ist nicht gerechtfertigt.

Sie kann nur durch einen „hinreichend gewichtigen Grund“ gerechtfertigt sein:

vgl. BVerfGE 100, 138 (174), Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 3, Rn. 14.

Bei einer Ungleichbehandlung von Personengruppen gelten besonders strenge Maßstäbe:

„Da der Grundsatz, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind, in erster Linie eine ungerechtfertigte Verschiedenbehandlung von Personen verhindern soll, unterliegt der Gesetzgeber bei einer Ungleichbehandlung von Personengruppen regelmäßig einer strengen Bindung.“

BVerfGE 95, 267 (316).

Nach der Willkürformel liegt eine Ungleichbehandlung vor, „wenn sich für eine gesetzliche Regelung kein sachlicher Grund finden lässt und sie deshalb als willkürlich zu bezeichnen ist“.

Jarass, Art. 3, Rn. 26.

Dies ist der Fall, wenn eine gesetzliche Regelung evident unsachlich gleich oder ungleich behandelt:

vgl. Osterloh, Sachs, Art. 3, Rn. 9.

Die Altersgrenze von 25 Jahren ist willkürlich. Ohne sachliche Begründung wird eine Grenze ausgerechnet bei 25 Jahren gezogen. Unterhalb dieses Alters werden die in § 31 SGB II aufgeführten Pflichtverletzungen härter bestraft. Dabei stimmen die „Pflichten“ der Unter-25-Jährigen mit denen der Über-25-Jährigen überein. Das gleiche Verhalten führt damit zu unterschiedlichen Ergebnissen, je nachdem, ob es vor oder nach dem 25. Geburtstag erfolgt.

Das Bundesverfassungsgericht hat die unterschiedliche Behandlung von Personengruppen beim Bezug von Arbeitslosengeld I (Leistungskürzung wegen Meldeversäumnissen) bereits 1987 mit Hinweis auf den Gleichheitsgrundsatz für unzulässig erklärt:

„Beide Personenkreise [Leistungsbezieher mit und ohne „wichtigen Grund“, d. Verf.] unterscheiden sich nicht so erheblich voneinander, daß die beanstandete Regelung vertretbar wäre. Der allgemeine Gleichheitssatz wird verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten (vgl. BVerfGE 71, 146 (154) = NJW 1986, 709).“

BVerfG, 10.02.1987 - 1 BvL 15/83, NJW 1987, 1929 f. (1930).

Dies muss erst recht bei denjenigen Bedürftigen gelten, denen nicht nur ein ähnliches, sondern das gleiche Versäumnis zur Last gelegt wird.

Es sind zwischen den Gruppen der Über- und Unter-25-Jährigen keine Unterschiede ersichtlich, die nach Art und Gewicht eine solche Differenzierung rechtfertigen könnten. Es kann kaum angenommen werden, dass junge Erwachsene ausgerechnet exakt bis zum 25. Geburtstag eher zu pflichtwidrigem Verhalten neigen.

In anderen Rechtsbereichen gibt es zwar auch pauschale Differenzierungen nach Altersgruppen. Im Zivilrecht wird bezüglich der Geschäftsfähigkeit eine Grenze bei Volljährigkeit gezogen. Dem Strafrecht wiederum ist es eigen, über die Anwendung von Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht zu entscheiden. Hier liegt die Altersgrenze grundsätzlich ebenfalls bei Volljährigkeit. In beiden Fällen wird jedoch anhand der mangelnden Reife/Einsichtsfähigkeit und damit anhand einer Eigenschaft differenziert, die eng mit dem zu regelnden Rechtsgebiet zusammenhängt. Das junge Alter führt zudem in beiden Fällen stets zu einer Besserstellung der Kinder und Jugendlichen. Die mangelnde Unrechtseinsicht von Heranwachsenden kann im Strafrecht noch bis zum 21. Lebensjahr zu einer Besserbehandlung führen, die Entscheidung darüber obliegt einem Gericht in jedem Einzelfall. Im SGB II verhält es sich andersherum: Ohne nähere Prüfung werden Betroffene aufgrund ihres Alters pauschal schlechter gestellt.

Hinzu kommt, dass der Gesetzgeber sich bei der Leistungsgewährung des SGB II im Bereich der Leistungen zur Deckung des Existenzminimums bewegt. Dafür hat das Bundesverfassungsgericht mit seiner Entscheidung vom 18.7.2012 zusätzliche Maßstäbe auch im Hinblick auf die unterschiedliche Behandlung von Personengruppen gelegt. Danach ist eine unterschiedliche Behandlung zwar nicht per se unzulässig, es ist aber auch in diesem Zusammenhang entscheidend,

„dass der Gesetzgeber seine Entscheidung an den konkreten Bedarfen der Hilfebedürftigen ausrichtet. [Hervorh. d. Verf.]

BVerfG, 1 BvL 10/10 vom 18.7.2012, Abs.-Nr. 93.

Ausdrücklich formuliert das Bundesverfassungsgericht:

„Werden hinsichtlich bestimmter Personengruppen unterschiedliche Methoden zugrunde gelegt, muss dies allerdings sachlich zu rechtfertigen sein. [...] Eine Differenzierung ist nur möglich, sofern deren Bedarf an existenznotwendigen Leistungen von dem anderer Bedürftiger signifikant abweicht und dies folgerichtig in einem inhaltlich transparenten Verfahren anhand des tatsächlichen Bedarfs gerade dieser Gruppe belegt werden kann.“ [Hervorh. d. Verf.]

BVerfG, 1 BvL 10/10 vom 18.7.2012, Abs.-Nr. 97, 99.

Der Bedarf von Unter-25-Jährigen ist durch den Gesetzgeber aber gerade nicht gesondert berechnet, sondern aufgrund bloßer Mutmaßungen über den angeblich erzieherischen Effekt eingeführt worden.

Die Ungleichbehandlung soll nämlich dem Ziel dienen, bei jungen Erwerbsfähigen einer Langzeitarbeitslosigkeit von vornherein entgegenzuwirken und diesen Personenkreis besonders zu „fördern“:

vgl. Bundestags-Drucksache 15/15165, S. 61.

Doch die Regelungen sind dazu schon nicht geeignet. Es gibt nämlich keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass eine stärkere Disziplinierung tatsächlich zu einer besseren Integration in den Arbeitsmarkt führt. Vorliegende Studien sprechen sogar eher für eine gegenteilige Wirkung:

vgl. Berlit, Handbuch Existenzsicherungsrecht, 2013, Kapitel 23 (Sanktionen), Rn. 21 m. w. N.

Ein besonderes Förderungselement durch Sanktionierung ist ebenfalls nicht plausibel. Es kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass Unter-25-Jährige einer schärferen Sanktionierung bedürfen, weil sie sonst das gerügte Verhalten nicht änderten.

Vgl. Berlit, Das neue Sanktionensystem, ZFSH/SGB 2006, S. 16 f.

Die schärferen Sanktionen für Unter-25-Jährige sind darüber hinaus auch nicht erforderlich.

Vgl. Lauterbach, Verfassungsrechtliche Probleme der Sanktionen im Grundsicherungsrecht, ZFSH/SGB 2011, S. 587.

Für eine bessere Unterstützung der Unter-25-Jährigen wäre es stattdessen möglich und zielführender, eine bessere Betreuung und Fort- und Weiterbildung sowie Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen oder zumindest einheitliche Ausbildungsstandards zu gewährleisten.

Darüber hinaus scheitern die Regelungen an der Angemessenheit. Die Ungleichbehandlung ist nicht verhältnismäßig. Der Rechtfertigungsgrund müsste, um verhältnismäßig zu sein, in angemessenen Verhältnis zu dem Grad der Ungleichbehandlung“ stehen.

BVerfGE 102, 68 (87); Jarass, Art. 3, Rn. 27.

Die Folgen für die Unter-25-Jährigen sind jedoch enorm. Diesbezüglich kann auf die bereits skizzierten Folgen von Sanktionen verwiesen werden. Diese verheerenden Auswirkungen auf nahezu alle Bereiche des täglichen Lebens treffen Unter-25-Jährige schneller und umfassender und noch dazu regelmäßig in der ersten Zeit eigenständiger Lebensführung. Sie stehen in keinem angemessenen Verhältnis zu dem vorgeblichen Zweck einer schnelleren Arbeitsmarkteingliederung.

An dieser Einschätzung der Verfassungswidrigkeit der härteren Sanktionen für Unter-25-Jährige besteht – im Gegensatz zur grundsätzlichen Auffassung zu Sanktionen,

zum Meinungsstand diesbezüglich s. Anhang

weitreichende Übereinstimmung in der rechtswissenschaftlichen Literatur:

vgl. Berlit, Handbuch Existenzsicherungsrecht, 2013, Kapitel 23 (Sanktionen), Rn. 83, ders., ZFSH/SGB 2008, 3 (15) und ZfSH/SGB 10/2012, S. 561 ff. (576);  Davilla, Die schärferen Sanktionen im SGB II für Hilfebedürftige unter 25 Jahren – ein Plädoyer für ihre Abschaffung, in: SGb 2010, 557, 559; Breitkreuz/Wolff-Dellen, SGb 2006, 206 (210); Lauterbach, NJ 2008, 241 (247); Lauterbach in: Spellbrink, Das SGB II in der Praxis der Sozialgerichte – Bilanz und Perspektiven, 2010, S. 11 (35 f.); Winkler in: Gagel, Stand 4/2010, § 31 SGB II, Rn. 174; Rixen in: Eicher/Spellbrink, 2. Aufl. 2008, § 31 SGB II, Rn. 53; Loose, ZfSH/SGB 2010, 340 (346).

Zuletzt hat sich der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge für eine rasche Abschaffung der Ungleichbehandlung ausgesprochen:

vgl. Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge, 11.6.2013, DV 26/12 AF III, S. 6 ff.